Jetzt den Widerstand organisieren!

Zu einer Demonstration gegen die drohende Zerschlagung der europäischen Bahnen und die Aushöhlung des Streikrechts waren am 24. Mai rund 1000 Eisenbahnerinnen und Eisenbahner aus zehn verschiedenen Europas Ländern nach Brüssel gekommen. Sie folgten einem Aufruf der Europäischen Transportarbeiterförderation (ETF) zum Protest gegen die Absicht der Kommission und der meisten Fraktionen im Europaparlament, den vor gut 20 Jahren eingeleiteten Prozess der Zerschlagung und Privatisierung mit aller Gewalt zu beschleunigen und zu verschärfen.

Dass die Warnungen der ETF und die Ängste der vor dem Brüsseler EU-Parlament versammelten Kolleginnen und Kollegen berechtigt sind, zeigte sich bei der Sitzung des Verkehrsausschusses im Europaparlament. Dort präsentierte die italienische Abgeordnete Debora Serracchiani (Foto) von der sozialdemokratischen Fraktion als Berichterstatterin ihre umfangreiche Vorlage zur Abänderung und Ergänzung des Richtlinienentwurfs der Kommission („Recast“). Sie und die allermeisten anderen Abgeordneten beklagten einen Rückgang des Marktanteils des Schienenverkehrs in Europa und betonten ihre Absicht, durch eine Änderung der geltenden Rechtsvorschriften wieder mehr Güter und Personen auf die Schiene zu verlagern. Ihr gebetsmühlenartig wiederholtes Zauberwort ist dabei ein voller „diskriminierungsfreier Wettbewerb“ und die strikte Trennung der Eisenbahninfrastruktur von den Transportgesellschaften für den Güter- und Personenverkehr und die „Vollendung des Binnenmarkts im Eisenbahnwesen“ Dazu gehört auch die Öffnung und Ausschreibung von Dienstleistungen rund um den Eisenbahnbetrieb. Dann könnten neue Bahnen und Dienstleistungsunternehmen wie Pilze aus dem Boden schießen.


Mindestdienste höhlen Streikrecht aus


Es müsse dafür gesorgt werden, dass Eisenbahnverkehr „von Warschau bis London und von Skandinavien bis Rom“ möglich werde, sagte etwa der deutsche CDU-Abgeordnete Werner Kuhn aus Zingst. „Ein Streik darf nicht den europaweiten Verkehr blockieren“, betonte ein anderer Abgeordneter. Eine im Richtlinienentwurf der Kommission vorgesehene Vorschrift von „Mindestdiensten“ dürfe auf keinen Fall gestrichen werden, forderte er.


Trennung von Netz und Betrieb


„Wir sind für die Trennung von Netz und Betrieb“, bekannte auch der Berliner Michael Cramer (Grüne) und machte sich für eine schnellere Vergabe von „Slots“ für kleinere Unternehmen stark. Unterschiede zwischen den grundsätzlichen Befürwortern von „mehr Wettbewerb“ machten sich vor allem an der Frage fest, ob dazu die bestehenden, meistens noch in Staatsbesitz befindlichen Eisenbahngesellschaften vollständig zerschlagen werden müssen. Es gebe derzeit in einigen Ländern „Entflechtung ohne Wettbewerb“ und in anderen wiederum „Wettbewerb ohne Entflechtung“, so ein sozialdemokratischer Abgeordneter. Demgegenüber erwies sich der englische Labour-Abgeordnete Brian Simpson (Foto), der die Sitzung leitete, als Hardliner einer strikten Trennung von Netz und Betrieb, der offenkundig nichts aus der Zerschlagung und Privatisierung der Eisenbahnen in seinem Land gelernt hat. Dass nach den leidvollen Erfahrungen der letzten beiden Jahrzehnte nicht nur die Gewerkschaften, sondern über 70 Prozent der Bevölkerung und auch ein Konferenzbeschluss der Labour Party die Wiederverstaatlichung und Zusammenführung der privatisierten und fragmentierten Bahnen fordern, ist für Simpson offenbar ein Buch mit sieben Siegeln. Dabei läuft die von der Kommission und Serracchiani geforderte Zerschlagung letztlich auf britische Zustände in ganz Europa hinaus.

Von der Masse der Wortmeldungen hob sich der Redebeitrag der aus Hamburg stammenden Abgeordneten Sabine Wils (Foto) von der europäischen Linksfraktion (GUE/NGL) wohltuend ab. Sie berichtete von der Anhörung ihrer Fraktion am 3. März mit Experten und Gewerkschaftern. Die schon bisher eingeleitete Liberalisierung und Deregulierung des Eisenbahnwesens habe schwerwiegende negative Folgen gehabt, erklärte Sabine Wils und erinnerte an das zurückliegende Winterchaos in Schweden, schwere Unfälle mit Todesopfern in Viareggio, Großbritannien und Horsdorf (Sachsen-Anhalt). Als verantwortungslos bezeichnete sie die drohende Zerlegung gesunder und gut funktionierender integrierter Eisenbahnunternehmen. Unweigerliche Folge dieser Politik sei eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und der Arbeitnehmerrechte. Die Bedrohung des Streikrechts durch den Passus zu den Mindestdiensten müsse komplett gestrichen werden, forderte sie.

Bei der Demonstration hatte Sabine Wils in einem Flugblatt ihre Solidarität mit den protestierenden Gewerkschaften erklärt. Ihre Rede war im Grunde der einzige Lichtblick in der Sitzung des Verkehrsausschusses. Gewerkschafterinnen, die durch Vermittlung der Linksfraktion Zutritt zur Sitzung des Verkehrs, ist klar geworden, dass die große Mehrheit der Abgeordneten im Verkehrsausschuss wenig Ahnung vom Eisenbahnbetrieb hat und voll auf das neoliberale Vorurteil abfährt, dass nur eine in tausend Einzelteile zerschlagene Eisenbahn und das Zauberwort „Wettbewerb“ mehr Verkehr auf die Schiene bringt. Dabei widerspricht die praktische Erfahrung der letzten 20 Jahre diesem Vorurteil. So zeigt auch das zurückliegende Winterchaos in Deutschland und Schweden: Eine in immer mehr Einzelunternehmen fragmentierte Bahn funktioniert schlechter. Eisenbahnbetrieb ist auf optimale, disziplinierte Zusammenarbeit und Kommunikation angewiesen und eignet sich nicht als Versuchsobjekt für Liberalisierung und Wettbewerbsfantasien. Der Kostendruck durch Ausgliederung und Ausschreibungen fördert nicht nur Lohn-, Sozial- und Umweltdumping, sondern gefährdet die Sicherheit.

Die EU-Kommission und Serracchiani beteuern, sie wollten die „Schaffung eines einheitlichen europäischen Eisenbahnraums“ fördern. Dabei betreiben die Staatsbahnen seit Jahrzehnten einen gemeinsamen grenzüberschreitenden Personen- und Güterverkehr. Mehrstromloks können ebenso wie Hochgeschwindigkeitszüge schon längst ohne Halt am Grenzbahnhof durchfahren. Das ist alles ein Produkt konstruktiver Zusammenarbeit kompetenter EisenbahnerInnen. Nachdem EU-Richtlinien bereits die europaweite Liberalisierung im Schienenverkehr eingeleitet haben, ist diese fruchtbare Kooperation jetzt zunehmend gefährdet. Denn mittlerweile geraten die europäischen Bahnen zunehmend in eine Konkurrenzsituation, die die Zusammenarbeit gefährden könnte. So setzt die Deutsche Bahn (DB) weiter auf Expansion durch europaweiten Zukauf von Bahnen und Bussen. Gleichzeitig konkurrieren Ableger von Staatsbahnen aus Frankreich, Dänemark, den Niederlanden und Italien im deutschen Nahverkehr gegen die DB-Tochter Regio. Die Aufmerksamkeit der Bahnmanager gilt so zunehmend dem Kampf Bahn gegen Bahn und nicht mehr der Stärkung der Schiene.

Diesen Wahnsinn müssen wir stoppen. Das „Recast“ darf nicht durchkommen!

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