Katastrophaler Zustand
In Großbritannien wird immer lauter die Wiederverstaatlichung des Bahnsystems gefordert

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LONDON, 15. April. Es ist wohl nur in Großbritannien möglich, dass auf einer der besten Bühnen des Landes ein Stück über die misslungene Privatisierung der Bahn aufgeführt wird. Und dass es auch noch zu einem Hit wird. Der renommierte britische Dramatiker David Hare befragte Schienenarbeiter, Politiker und Überlebende der vier schweren Bahnunfälle der vergangenen sieben Jahre für sein Stück "Permanent Way". Das könnte man mit "Steter Weg" übersetzen oder mit "Immer dasselbe". In dem Stück beschreibt Hare die verrotteten Züge, in denen Tag für Tag Millionen von Pendlern zusammengepfercht werden, die chronische Unpünktlichkeit, die Schlampigkeit der Betreiber. Er beschreibt die Unfähigkeit einer der größten Wirtschaftsnationen, den Bürgern ein gutes Bahnsystem zu garantieren.

Dass der Dramatiker nicht übertrieben hat, bestätigte ein Bericht des Verkehrsausschusses, der kürzlich im Unterhaus vorgestellt wurde. Das britische Eisenbahnnetz sei in einem katastrophalen Zustand, heißt es darin. Die Bahnen seien unfähig, einen vernünftigen Kundenservice sicherzustellen.

Der Bericht des Ausschusses trifft die Regierung unter Tony Blair ins Mark. Schließlich hat sich Blair bei Amtsantritt die Erneuerung der unter Margaret Thatcher verfallenen öffentlichen Dienste auf die Flaggen geschrieben. Die fürchterliche Lage der Eisenbahnen ist für ihn eine tickende Zeitbombe. In dieser Woche will nun auch noch die einflussreiche Eisenbahnergewerkschaft RMT mit Lohnstreiks den Verkehr in weiten Teilen des Landes lahm legen - erstmals seit der Privatisierung vor acht Jahren.

Ursache für den Verfall der Bahnen sei die Struktur des britischen Systems, analysiert der Verkehrsausschuss. Die Bahnen im Vereinigten Königreich sind privatisiert, mehrere große Unternehmen sind für den Betrieb der Züge zuständig. Die Sanierung des verfallenen Schienennetzes hat im Jahre 2002 die private Organisation Railtrack an die halbstaatliche Network Rail (NR) übergeben. Übersichtlicher wurde die Lage dadurch nicht.

"Die Zersplitterung des Bahnwesens macht guten Service chronisch unmöglich", konstatierte die Labour-Abgeordnete Gwyneth Dunwoody, Vorsitzende des Verkehrsausschusses. Die Network Rail sei weitgehend unfähig, die Kosten für die Modernisierung präzise vorauszusagen. Zuletzt wurden die Forderungen für die nächsten fünf Jahre auf 22 Milliarden Pfund (33 Milliarden Euro) wiederholt nach oben korrigiert.

Außerdem habe sich die Strategic Rail Authority, zentrale Steuerbehörde für die Bahnindustrie, unfähig erwiesen, den Service zu verbessern. Das jüngste Beispiel machte ein Guardian-Reporter ausfindig: Eine der Hauptrouten entlang der Westküste wird bis 2008 zehn Milliarden Pfund Steuergelder verschlungen haben - statt der geplanten 1,5 Milliarden. Längst sollten zwischen London und Edinburgh Intercity-Züge pendeln, doch die Strecke lässt immer noch keine Hochgeschwindigkeitsbahnen zu.

Als Lösung empfiehlt der Bericht die Wiederverstaatlichung des Bahnwesens. Die Network Rail und Strategic Rail Authority sollen abgeschafft und durch eine neue Agentur für das Schienennetz ersetzt werden. "Die Regierung hatte Jahre Zeit, sich der Probleme anzunehmen, hat es aber nicht geschafft, Maßnahmen zu ergreifen", sagte Gwyneth Dunwoody. Um das Chaos zu beenden, müssten die Verantwortlichkeiten für Netz und Züge in die Hand einer öffentlichen Einrichtung gelegt werden, forderte sie.

In der Regierung hat sich inzwischen offenbar die Einsicht durchgesetzt, dass eine Wiederverstaatlichung nicht aufzuhalten ist. So lobte Verkehrsminister Alistair Darling überraschenderweise den kritischen Bericht. Bis zum Sommer will er über weitere Maßnahmen entscheiden. Die Zeichen dafür stehen diesmal auf Grün.

 

Von Sabine Rennefanz - Berliner Zeitung - Freitag, 16. April 2004  

 

Wir meinen:

Wenn sich schon in der britischen Regierung die Einsicht durchgesetzt hat, „dass eine Wiederverstaatlichung nicht aufzuhalten ist“, wozu sollen wir in Deutschland da noch als weiter als Versuchskaninchen für einen  Börsengang herhalten?

 

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Berliner Zeitung - Freitag,
16. April 2004