1. Mai 2003
Auftakt zu einem heißen Mai!

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„Sozialreformen" – das waren in früheren Jahrzehnten noch Veränderungen, bei denen es hinterher der arbeitenden Bevölkerung, den Rentnern und „sozial Schwachen" tatsächlich besser ging. Seit Kohl, und zunehmend auch unter der Regierung Schröder, beschreibt das Schlagwort „Reform" reale Verschlechterungen für die breite Masse der Bevölkerung bei Lebensstandard und Lebensqualität und eine Vermögensumverteilung von unten nach oben. Schon die (eigentlich von Professor Rürup konzipierte) Riester’sche „Rentenreform" brachte eine Absenkung des allgemeinen Rentenniveaus und erschloss mit der staatlich subventionierten Privatrente den privaten Versicherungsgesellschaften neue lukrative Geldquellen.

Kein „Recht auf Arbeit" im Kapitalismus

Dass die kapitalistische Marktwirtschaft Krisen und Massenarbeitslosigkeit produziert, ist sicher nicht die Schuld der Bundesregierung. Doch anders als kritische Kolleginnen und Kollegen, die immer von der Krisenhaftigkeit des kapitalistischen Wirtschaftssystems ausgingen, ist die rot-grüne Bundesregierung in den letzten vier Jahren einem verhängnisvollen Trugschluß aufgesessen. Offensichtlich ging sie davon aus, man brauche nur recht nett zum Kapital sein und ihm Zugeständnisse machen, und schon würde die Wirtschaft boomen und früher oder später ausreichend Arbeitsplätze schaffen.

Bei viereinhalb Millionen offiziell registrierten Arbeitslosen (real weit über 6 Millionen) und einer Wirtschaft am Rande der Rezession fällt der Regierung Schröder nun nichts anderes ein als schon der Regierung Kohl im Jahre 1996. Sozialabbau und Beschneidung von Arbeitnehmerrechten sollten damals mehr „Wachstum und Beschäftigung" bringen. Das Programm brachte mehr Profite in die Taschen der Unternehmer, aber weder mehr Wachstum noch mehr Beschäftigung. Zwei Jahre später wurde Kohl als „Kanzler der Arbeitslosen" abgewählt.

Kurz war das Glück, als nach der Bundestagswahl 2002 einige Medien Schröder als „Gewerkschaftskanzler" darstellten und einige Gewerkschafter daran glaubten. Spätestens die Agenda 2010 zeigt, was der Basta-Kanzler mit uns vorhat und was er der eigenen Basis ultimativ vorgesetzt hat - nach dem Motto: „Friß oder Stirb!" Schröder zeigt sich – bislang – gegen gewerkschaftlichen Druck immun.

Was wollen uns die Vorschläge Schröders und seiner Berater weismachen? Dies läßt sich in zwei Sätzen komprimieren:

Behauptung Nr. 1:
„Die Belastungen für Unternehmen und Besserverdienende müssen sinken – dann geht es allen besser."

So lautet die Logik der alten und neuen Regierung. Tatsache ist: Die „Belastungen" für Unternehmen und Reiche sind rapide gesunken. Gleichzeitig sind Arbeitslosigkeit und Armut immer weiter gestiegen, und ebenso die Zahl der Millionäre.

Eichels Steuergeschenke an die Reichen haben die Finanznot der öffentlichen Kassen verschärft. Die staatlichen Einnahmen aus der Körperschaftssteuer betrugen im Jahre 2000 noch 23,6 Mrd. Euro. Aber 2001 mußte die öffentliche Hand statt Einnahmen noch 400 Millionen Euro am die Kapitalgesellschaften auszahlen. 2002 betrugen die Einnahmen dann lediglich 2,9 Mrd. Euro.

Behauptung Nr. 2:
„Sozialabbau verbessert die Arbeitsmarktchancen und den Arbeitsanreiz".

In diesem Sinne soll jetzt bei der Höhe und Bezugsdauer des Arbeitslosengelder, bei Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe und Krankengeld gekürzt werden, was das Zeug hält. Die Streichung des Krankengeldes soll zum Abschluß einer Privatversicherung zwingen. Gewinner wäre – wie bei „Riester" – wieder die Versicherungsbranche. Wo die Agenda 2010 konkret wird, da sind die Ärmsten die Hauptopfer. Wie Hohn klingt da das Bekenntnis im SPD-Wahlprogramm: „Wir bekennen uns zur besonderen Verantwortung gegenüber den Schwächeren in unserer Gesellschaft."

Tatsache ist: Auf eine offene Stelle kommen bundesweit 11 Arbeitslose. Durch immer mehr Druck auf die Arbeitslosen wird keine einzige neue Stelle geschaffen. Großkonzerne, aber auch Bund, Länder und Gemeinden – etwa durch die Privatisierung von bisherigen öffentlichen Unternehmen – haben in den letzten Jahren massiv geregelte und bisher unbefristete Arbeitsverhältnisse zerstört. Immer mehr Menschen sind heutzutage gezwungen, in schlecht bezahlten, unsicheren Arbeitsverhältnissen ihr Dasein zu fristen. Anstatt die fortdauernde Zerstörung von festen Arbeitsverhältnissen zu stoppen und dauerhafte neue Arbeitsplätze zu schaffen, wälzen die Hartz-Gesetze die Lasten und Risiken weiter auf die Arbeitslosen ab und senken gleichzeitig das allgemeine Lohn- und Sozialniveau.

Wozu sollen wir den „Gürtel enger schnallen" und unsere Ansprüche runterschrauben?

Deutschland ist ein reiches Land. Hier lagern Geldvermögen in Höhe von 3,8 Billionen Euro. Doch nur 0,5 Prozent der Bevölkerung verfügen über ein Viertel dieses Riesenvermögens, und die 100 reichsten Personen halten zusammen 250 Milliarden Euro (mehr als der ganze Bundeshaushalt für ein Jahr). Demgegenüber steigt die Zahl der Sozialhilfebezieher und Menschen um das Existenzminimum. Das Einkommen aus Unternehmen und Vermögen ist seit 1994 netto-real um 21% gestiegen, während das Einkommen der Beschäftigten von 1991 bis heute netto-real nur um 1% gestiegen ist, also fast stagniert.

Die Kapitalbesitzer haben sich selbst eingeredet, dass sich ihr Geld automatisch vermehren würde und ihr Börsenboom unbegrenzt anhalten würde. Doch in den letzten drei Jahren sind die Aktienwerte von 1,7 Billionen Euro auf 647 Mrd. Euro zurückgegangen. Zum Verzocken war und ist immer massig Geld da, nicht aber für Investitionen in die Zukunft der Gesellschaft. Jetzt wollen sich die Kapitalbesitzer für diese Eigentumsverluste entschädigen und greifen daher uns in die Taschen.

Heißer Mai

Nach den gewerkschaftlichen Ankündigungen der letzten Wochen muss dieser Monat ein wirklich „heißer Mai" werden. Erster Warnschuss und Auftakt hierzu waren die Demonstrationen und Kundgebungen zum „Tag der Arbeit". Schröder, Clement, Schartau und andere Verfechter der Agenda 2010, die am 1. Mai auftraten, bekamen Kritik und Mißfallen vieler Kolleg(inn)en vor Ort lautstark zu spüren. Die Stimmung an der Basis: wir sind nicht bereit, am Sozialabbau „konstruktiv" mitzuwirken. Es geht nicht um die „Nachbesserung" bei einzelnen Maßnahmen, sondern um die grundsätzliche Verhinderung aller Verschlechterungen.

Trostpflästerchen des Schröder-Apparats etwa nach dem Motto „Erst kürzen wir den älteren Arbeitslosen die Bezugsdauer, und dann befasst sich ein Arbeitskreis mit der Frage, wo später die Arbeitsplätze für die Älteren herkommen sollen", sind Augenwischerei und unannehmbar.

Jetzt muss eine breite Aufklärungskampagne in den Betrieben und in der Öffentlichkeit laufen. Die Agenda 2010 muss zum Thema werden bei Betriebsversammlungen, Sitzungen von Betriebsräten und Betriebsgruppen und wo immer sich dafür die Gelegenheit bietet. Es gibt gute Argumente und viel gewerkschaftliches Informationsmaterial – all das muß jetzt rein in die Köpfe der arbeitenden Menschen.

Lokale Aktionen und Demonstrationen und die bundesweite ver.di-Demonstration am 17. Mai in Berlin sind der nächste Mobilisierungshöhepunkt. Sollte der Kanzler immer noch nicht nachgeben und den sozialen Kahlschlag zurückziehen, so müssen wir noch einen Zahn zulegen. Der von der IG Metall ausgerufene bundesweite Aktionstag am 24. Mai muss signalisieren: wir lassen das nicht mit uns machen!

Die Delegierten des SPD-Sonderparteitags am 1. Juni müssen schon in der Heimat angesprochen werden und bei der Ankunft am Tagungsort (hier findet am 1.6. eine Demo statt!) sehen, dass die SPD einer Konfrontation mit der organisierten Arbeiterbewegung nur ausweichen kann, wenn sie die Agenda 2010 ablehnt und den Erpressungsversuchen den Kanzlers nicht nachgibt.

Sollte der gewerkschaftliche Druck immer noch nicht ausreichen, um die Delegierten des SPD-Sonderparteitags am 1. Juni 2003 zu einem klaren Votum für ihre Überzeugung, gegen die Agenda 2010 und gegen Schröders eiskalte Erpressung zu bewegen, so muss an dem Tage, an dem die Sozialabbau-Maßnahmen der Agenda 2010 im Bundestag zur Beratung und Abstimmung anstehen, bundesweit massenhaft die Arbeit ruhen. Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will.

Sozialabbau-Gegner aller Länder – vereinigt Euch! 

Gestützt auf eine kritische Grundstimmung an der Basis und ermutigt durch den Widerstand der Gewerkschaften haben einige Mandatsträger der SPD und Gewerkschafter mit Sitz und Stimme in Parteigremien das erste Mitgliederbegehren in der Parteigeschichte gestartet. Jetzt kommt es darauf an, dass die Kritiker und Gegner der Agenda 2010 bei ihrem „Nein" bleiben und die Bundestagsabgeordneten unter ihnen auch tatsächlich mit „Nein" stimmen – so wie es der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen in der SPD, Ottmar Schreiner, angekündigt hat. Statt Herumbasteln an irgendwelchen faulen Kompromissen und Fußnoten des Leitantrags im Vorfeld des Parteitags brauchen wir ein klares Nein und den Schulterschluß der kritischen SPD-Mitglieder mit den Gewerkschaften.

Auch wenn ein Großteil der bürgerlichen Medien den „modernen" Kanzler lobt und die „traditionalistischen" Gewerkschaften heftig angreift: Wer die sogenannten „Sozialreformen" ablehnt, ist kein „ewiggestriger Traditionalist". Wir wollen keinen Angriff auf Sozialstaat, Reallohn und alle Errungenschaften der letzten Jahrzehnte zur Sanierung der Kapitalrenditen. Wir brauchen einen gesamtgesellschaftlichen Kassensturz, um zu sehen, wie die Reichtümer verteilt sind. Wenn genug Geld da ist, um an der Börse verzockt zu werden, dann muss auch genug Geld für den Sozialstaat da sein! Die Reichtümer der Gesellschaft gehören in die Hände der Gesellschaft und unter die Kontrolle der arbeitenden Bevölkerung. Wir müssen selbst darüber entscheiden, was wo und wie investiert und in unserem Interesse eingesetzt wird. Wir brauchen eine massive Senkung der Arbeitszeit und eine Aufteilung der vorhandenen Arbeit auf alle Arbeitsfähigen!

Statt Kriegserklärung an den Sozialstaat und ruinösem Standortwettbewerb und Dumpingspirale durch Kapital und Regierungen in aller Welt brauchen wir die internationale Solidarität der Arbeiterbewegung. Sozialabbau-Gegner aller Länder – vereinigt Euch! 

Hans-Gerd Öfinger

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Ein Flugblatt zum Ausdrucken:
Aufruf zu einer Demo am 1. Juni 2003 in Berlin vor dem SPD-Sonderparteitag.

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