Debatte beim SPD-Parteitag zeigt:
Mehrheit will keine Bahnprivatisierung

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Selten lösen Sachfragen solche Emotionen aus. Lang anhaltender Applaus und Hurra-Rufe sprachen für sich und waren ein deutlicher Fingerzeig. Der Stuttgarter Peter Conradi, Kritiker jeglicher Bahnprivatisierung, hatte mit seinem Plädoyer für die Beibehaltung von 100 Prozent Bundesbesitz an der Bahn die Stimmung im CCH gut getroffen. 70 Prozent der Bevölkerung und elf von 16 SPD-Landesparteitagen wusste Conradi in der Sache auf seiner Seite. „Ich bin den Menschen im Lande näher als die Befürworter eines Verkaufs von Bahn-Aktien“, konnte er so ohne Übertreibung in einem Seitenhieb auf den wiedergewählten Parteichef Kurt Beck feststellen. Auch den als „Brücke zwischen Gegnern und Befürwortern der Privatisierung“ eingefädelten „gefährlichen Weg“ der „Türöffnung“ zur Privatisierung über Volksaktien bzw. „stimmrechtslose Vorzugsaktien“ wollte Conradi nicht mitgehen. „Ein bisschen Börsengang“ gebe es ebenso wenig wie „ein bisschen Schwangerschaft“. Wenn DB-Chef Hartmut Mehdorn mit seiner „Global Player“-Strategie auch Speditionen in Lateinamerika oder Häfen in Afrika aufkaufen wolle, werde er damit vermutlich genau so kläglich scheitern wie Ex-DaimlerChrysler-Chef Schrempp, der mit seinen Einkaufstouren Milliarden verbrannt hatte. „Die Bahn gehört auf die Schiene und nicht auf die Börse“, bekannte Conradi.

Mehrfach versuchte Ex-Generalsekretär Olaf Scholz als Versammlungsleiter den anhaltenden Applaus abzuwürgen und den Transnet-Vorsitzenden Norbert Hansen zum Podium zu bitten. Spätestens jetzt muss es der Parteitagsregie bewusst geworden sein, dass ihr in der Frage der Bahnprivatisierung – dem Mega-Privatisierungsprojekt des 21. Jahrhunderts – eine empfindliche Niederlage drohte. Bei den Wahlen am Vortag hatten die Delegierten Verkehrsminister Wolfgang Tiefensee, einen Hauptarchitekten des angestrebten Börsengangs, mit einem Denkzettel in den 2. Wahlgang geschickt. Auch hatten gegen den Vorstandswillen für 130 km/h Tempolimit auf Autobahnen votiert. Noch im Sommer hatte Tiefensee beabsichtigt, das Eisenbahn-Privatisierungsgesetz rechtzeitig vor dem Hamburger Parteitag in Dritter Lesung durch den Bundestag beschließen zu lassen. Daraus wurde unter dem Druck von unten nichts.

Eingangs hatte Scholz nach 32 Wortmeldungen die Rednerliste hastig abgeschlossen. Als der Transnet-Vorsitzende Norbert Hansen mit dick aufgetragenen Lobeshymnen für die SPD und einem Plädoyer für Privatisierung wenig Beifall erntete, steckten Beck, Generalsekretär Heil und Verkehrsminister Tiefensee die Köpfe zusammen und heckten eine Taktik aus, um den drohenden Rückschlag für die Privatisierungslobby zu verhindern. Scholz ließ außer der Reihe den Parteichef ein Machtwort sprechen und die Notbremse ziehen. Beck, der zur Sache nicht reden wollte, erzwang einen Abbruch der Debatte. Er bestand darauf, dass der Kongress unverzüglich Tiefensee einen Handlungsauftrag für die weitere Ausgestaltung des Privatisierungsverfahrens unter Berücksichtigung von „stimmrechtslosen Vorzugsaktien“ mit auf den Weg geben solle. Mögliche Zwischenergebnisse sollten dann unter „Berücksichtigung“ der „deutlich gewordenen Sorgen und Bedenken“ von Führungsgremien und Fachpolitikern bewertet und – falls Zweifel „nicht völlig ausgeräumt sind“ – dem nächsten Parteitag zur Entscheidung übertragen werden, so Becks wachsweiche Formulierung.

Becks Ergänzungstext zu einem Änderungsantrag, der bei einem Scheitern der „Volksaktie“ eine Privatisierung ausschloss, sorgte für Verwirrung im Saale. Diese nutzte Scholz aus, um die restlichen 20 Wortmeldungen zu entsorgen und dann handstreichartig über das Volksaktienmodell und Becks Procedere abstimmen zu lassen. Als sich dann doch Unmut über dieses Manöver breit machte, versuchte Scholz Beck zu interpretieren: „Ich glaube, wenn ich das richtig sehe, war das auch so gemeint gewesen, dass der Parteitag befasst werden muss, wenn die Gremien meinen, das war es nicht. Und so habe ich Kurt Beck verstanden.“

Keine Stimme des Protestes wurde laut, als Scholz die privatisierungskritischen Anträge U19 bis U34 aus dem Antragspaket für „erledigt“ erklärte. Die Fäuste blieben in der Tasche. Nach demokratischen Gepflogenheiten wäre es durchaus berechtigt gewesen, über die weitergehenden (also jede Privatisierung ablehnenden) Anträge zuerst abstimmen zu lassen. Doch offenbar wollte sich niemand den Vorwurf einhandeln, Beck und Tiefensee demontiert zu haben

Hans-Gerd Öfinger